Deutsch-Griechische Gesellschaft Hamburg

Das literarische Werk von Kallia Papadaki

von Dr. Kyriaki Chryssomalli-Henrich

Kallia Papadaki, eine der jüngsten griechischen Autorinnen, hat für ihre zwei Prosabücher schon zwei Preise bekommen: für den Erzählband Der Klang des Hinterhofs. Sechs gemeinnützige Geschichten 2010 den Preis einer erstmals publizierenden Autorin der literarischen Zeitschrift Diavaso und 2017 für ihren ersten Roman Dendrites den europäischen Literaturpreis. Zwischen diesen beiden Prosatexten hat sie den Gedichtband Lavendel im Dezember veröffentlicht; es handelt sich meist um Liebesgedichte. Soviel ich weiß, arbeitet sie z.Z. an einem neuen Roman.

Beide Prosabände bezeugen eine engagierte Autorin, die es erreicht, literarische Gestalten in verschiedenen sozialen Niveaus aufzubauen sowie deren Entwicklung und Reifung nachzuzeichnen, sie in Glück oder Unglück, Erfolg oder Misserfolg, und zwar immer mit Verständnis für ihre Fehler, zu begleiten. Ihre humanistische Einstellung veranlasst sie, auf der Seite der Schwachen, der Erfolglosen, der Menschen zu stehen, die niemals eine Chance gehabt haben, etwas Größeres oder Höheres zu erreichen. Diese Haltung befähigt sie, mit intensiver Anteilnahme, aber auch gleichzeitig mit Humor und feiner Ironie schwierige bis tragische Gestalten oder Situationen zu beschreiben. Zwischen den beiden Büchern gibt es natürlich Ähnlichkeiten, aber auch Unterschiede. Die epische Breite des Romans bietet mehr Möglichkeiten, die Situationen, vor allem aber die Gestalten mit Einzelheiten, die sie lebendiger und realistischer machen, zu gestalten. In einem Roman kann man die wichtigen fiktionalen Faktoren Zeit und Raum breiter anlegen oder mehrfacher brechen als in einer Erzählung. Und das geht auch in „Dendrites“ vor, einem Roman, der sich dem heutzutage so brennenden Thema der Migration widmet; darin handelt es sich um die Welle griechischer Auswanderer nach Amerika zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Bekanntlich war dies eine Wirtschaftsmigration, etwas das heutzutage die Nachrichten so negativ beherrscht. Da es im Roman um zwei Auswanderergenerationen geht, musste die Autorin die behandelte Zeit mehrfach brechen, bis die Biographien der zwei Helden sich treffen und dann parallel verlaufen. Darüber aber auch später.   

Kallia Papadaki am 7. Mai 2019 in Hamburg

Eine Reihe thematischer Motive, die als sogenannte Rekurrenzmotive sowohl die Erzählungen als auch den Roman durchlaufen, verbindet sie zu einem persönlichen Ganzen, welches Papadakis fiktionale Welt ausmacht: Liebe, Zärtlichkeit, Trauer, Tod, Verlust, Angst, Schmerz, das leidende Ich; im Erzählband werden vier der sechs Charaktere gänzlich mit letzterem Motiv gestaltet. Ihnen gegenüber steht aber eine Reihe negativer Motive: Unehrlichkeit, Gewalt, die manche ausüben und manche erleiden müssen, Heuchelei, Betrug, Intrigen, organisierte Kriminalität. Letztere Elemente sind eher in den Erzählungen, die oft die Aura einer Kriminalgeschichte aufweisen, zu finden, ohne dass sie jedoch bestimmend würden; vielmehr interessiert die Autorin die Art und Weise, wie ihre Helden auf die Provokationen, denen sie sie aussetzt, reagieren, in wieweit sie dadurch reifer, verständlicher, menschlicher werden. Dadurch bekommen die Erzählungen oft einen psychographischen Charakter, sie gestalten sich als entsprechende Studien bezüglich der Reaktionen der Figuren, die natürlich von ihrer Idiosynkrasie, ihrer konkreten Lebenssituation, ihrem Aushaltevermögens abhängen, wobei alle diese Elemente der sozialen Anthropologie, jedoch mit eindeutigem Nachdruck auf der Literarität, zugeteilt werden können.

Ironie und eine gewisse Verfremdung der Autorin gegenüber ihren Geschöpfen durchlaufen parallel zum Humor sowohl die Erzählungen als auch den Roman und verleihen eine Dimension der Leichtigkeit auch dann, wenn der Inhalt nicht fröhlich, ja sogar tragisch ist. Der Leser wird zu positiver Rezeption geführt.

Die Erzählungen

Der Erzählband enthält sechs Geschichten, davon drei in Er-, zwei in Ich-Erzählung und eine, mit dem Titel «Ich heiße Dimitra», anfangs in Ich-Form konzipiert, bald in Er-Form gewandelt, um dann bis zum Ende darin zu verbleiben; sie betreffen die Einwohner eines Mehrfamilienhauses im Zentrum des zeitgenössischen Athens, die durch Erwähnungen der jeweils anderen Bewohner locker miteinander verbunden werden, bilden jedoch keinen „Wirbelroman“, wie schon einmal behauptet wurde, weil sich zwischen den Personen mit einer Ausnahme, welche Dimitra betrifft, kaum einflussreiche Beziehungen entwickeln. Dimitra konstruiert nämlich gegen ihre Mitbewohner eine Intrige, um an die gesammelten Mietnebenkosten zu gelangen, Geld, mit welchem sie einen früheren „Mitarbeiter“ an illegalen Handlungen „ruhigstellen“ will. Der Coup gelingt, und Dimitra kann ihr jetziges bürgerliches Leben weiterführen. Sie erscheint noch einmal in der letzten Erzählung, in welcher sie Sotiris, ebenfalls Bewohner des besagten Mehrfamilienhauses, heiratet. Sonst geht es um Geschichten mit sehr unterschiedlichem Inhalt und sehr unterschiedlichen Charakteren: Es gibt einen Blinden, der ohne Grund entführt, am Ende wieder freigelassen wird und seine Entführer dank seines intensiven Geruchssinns entlarven kann; zwei Klatschtanten, welche das Geld für die Mietnebenkosten sammeln und durch Dimitras Intrige an den Betrüger verlieren. Humor und wohlwollende Ironie konstituieren mit sehr lebendigen Einzelheiten diese Erzählung, man merkt den Spaß, den die Verfasserin selbst dabei hatte. Es gibt einen Autor, der an der unerträglichen August-Hitze und an seiner nicht vorhandenen Inspiration so leidet, dass sein Leben durch eine unbedachte Einladung kaputtgemacht wird; hier herrscht das Motiv des leidenden Ichs vor. In der nächsten Erzählung hat der Held seinen Bruder eben zu Grabe getragen, und obwohl er derjenige aus der ganzen Familie ist, der den Toten am meisten geliebt hat, ausgerechnet vierzig Tage danach, das heißt, wenn wir in Griechenland die erste große Gedenkfeier für unsere Verstorbenen veranstalten, einen großen Fernseher kauft, durch den sein Wohnzimmer in Farben und Freude erstrahlt. Warum lässt ihn die Autorin dies tun? Was will sie uns damit sagen, vor allem wenn der Titel der Erzählung «In vierzig Tagen» heißt? In der letzten Erzählung geht es um eine psychisch kranke Frau, die in der Psychiatrie Schreckliches erlebt; sie ist mit sehr intensiver Empathie der Autorin, welche die Zustände in den psychiatrischen Anstalten brandmarkt, konzipiert. Hier steht das Element der Mitmenschlichkeit im Vordergrund.

Der Roman „Dendrites“

2015 ist der Roman Dendrites erschienen, für den Kallia Papadaki 2017 den europäischen Literaturpreis bekam. Somit hat sie schon mit ihrem zweiten Prosawerk eine sehr hohe Auszeichnung, von welcher andere Autorinnen und Autoren Jahrzehnte nur träumen können, gewonnen.

Um es gleich zu sagen, schon der Titel des Romans hat es in sich: Dendriten sind laut Lexikon „bäumchenartige verzweigte Plasmafortsätze an der Oberfläche der Nervenzellen. Sie transportieren Reize, sind aber auch fürs Lernen und Gedächtnis zuständig“. Das Wort kommt natürlich aus dem Griechischen, von δένδρον (Baum). Wir sollten uns an die Funktionen dieser Zellen erinnern: Lernen und Gedächtnis, Dinge, die im Roman, ebenso wie im Leben, eine wichtige Rolle spielen. Dennoch sieht es so aus, als ob diese Bedeutung die Autorin weniger interessiert als eine weitere: Dendriten spielen nämlich auch in der Kristallographie eine wichtige Rolle, so heißen (unter anderem) die Formen, die eine Schneeflocke ausmachen, wunderschöne Gebilde, die bei jeder Flocke einmalig und deshalb absolut vergänglich sind. Wenn die Schneeflocke schmilzt, verschwindet auch ihre Konstruktion. «So viel Schönheit, die verlorengeht, ohne eine Spur zu hinterlassen». Letzteres Zitat erwähnt Kallia Papadaki am Ende ihres Romans. Es stammt von Wilson Bendley, der als erster begann, Schneeflocken systematisch zu photographieren. Man findet es im Schneeflockenmuseum der Stadt Jericho  in Vermont. Diese Bedeutung könnte allegorisch für die Vergänglichkeit der menschlichen Bemühungen stehen. Mit der Erwähnung der Flocken, die durch das undichte Fenster im Altersheim, in dem der Held seine letzten Tage verbringt, hineinschneien, endet der Roman.

Nach der Bekanntmachung des Literaturpreises wurde die Autorin von den Medien belagert und musste viele Interviews geben. Sie erzählte oft, dass sie die Stadt Camden, in welcher ihre Geschichte beheimatet ist, niemals besucht hat; sie erhielt Informationen und gedrucktes Material über die griechischen Einwanderer von der Orthodoxen Kirchengemeinde  New Jerseys, bei der sie sich am Ende des Buches ausdrücklich bedankt. In diesen Interviews war sehr oft die Rede vom „amerikanischen Traum“. Sie habe ihren Roman unter dieses Motto gestellt. Darüber sagte sie gegenüber Kostas Agorastos:

«Der amerikanische Traum stellt eine Selbsttäuschung dar… Ich wollte einen Roman über diejenigen schreiben, die ihn nicht verwirklicht haben, nicht weil sie es nicht gewollt oder nicht intensiv genug versucht hätten, sondern weil die Umstände solche waren, dass die Geschichte sie schließlich hinter sich ließ, wenn sie sie nicht gar beiseiteschob.»

Und tatsächlich geht es im Roman um die Auswanderungsgeschichte eines Griechen, der zeitweilig diesen Traum von Erfolg und Geldverdienen fast verwirklicht hätte, um aber letztendlich auf der Strecke zu bleiben. Andonis Kambanis emigriert, wie so viele andere Griechen, Anfang des 20. Jahrhunderts nach Amerika, stammt aus Nisyros und hat italienische Ausweise, weil sich die Dodekanes damals unter italienischer Herrschaft befand. Im Roman geht es aber auch um seinen Sohn, der in Amerika geboren und amerikanischer Staatsbürger wurde. In aufeinander folgenden Kapiteln erzählt Papadaki die Geschichte der zwei Generationen alternierend zwischen Vater und Sohn. Diese kunstvolle Erzähltechnik in Kombination mit dem sehr oft gebrauchten Präsens erzeugt die Atmosphäre einer dauerhaften Gegenwart, als ob Glück und Unglück, Erfolg und Misserfolg der zwei Protagonisten gleichzeitig stattfänden, was natürlich ein strategisches Täuschungsmanöver der Autorin ist, die damit die Parallelität der zwei Schicksale, ja deren Unausweichlichkeit betonen will. Es geht ihr ja hauptsächlich um die Dokumentation der Bewältigung des Misserfolgs:

«Sieg und Erfolg interessieren mich nicht… [sondern] wie man mit dem Misserfolg umgeht. Das Wesen des Menschen und seine Humanität zeigen sich an den Rissen, an den Flicken, an der Anerkennung der eigenen Fehler. Und wenn er dann aufsteht und vom Nullpunkt an das Gehen wieder versucht,…»

Papadaki-Interview im Internet

Andonis Kambanis, sehr jung, sehr einfach, mit minimaler Schulbildung, wird gleich bei seiner Ankunft in Amerika von einem anderen Griechen um das wenige Geld, das er mitgebracht hatte, betrogen; er muss sofort ums nackte Überleben kämpfen. Gleichzeitig erfährt er den Tod seiner Mutter:

«Er war 22 Jahre alt, Vollwaise, ohne Haus, ohne Verwandte, in einer Stadt, deren Name keinerlei Erinnerungen weckte, existierte nur in der Gegenwart, und dann befreite ihn der Tod seiner Mutter von den Schuldgefühlen, die ihn behinderten, weil der Arme immer an die Rückkehr dachte»

Nun weiß er, dass er für immer hier bleiben wird, versucht sein Bestes, gerät in eine italienische Familie, die mit viel Humor und feiner Ironie beschrieben wird, hilft während der Prohibition bei der illegalen Grappaproduktion der Familie, ist schnell gezwungen, mehrmals den Beruf zu wechseln. Seine Hochzeit mit Rallu, einer Griechin aus Lesbos, markiert aber die wichtigste Zäsur in seinem Leben: Rallu ist klug und hübsch, trinkt aber zu viel, bald wird sie zur Alkoholikerin. Ein Kreis von Unglück und Trauer beginnt sich jetzt unaufhörlich um ihn zu schließen. Die unerwartete Geburt eines Sohnes verschlimmert die familiäre Situation:

[Die Übersetzung des folgenden langen Zitats stammt von Prof. Günther S. Henrich. Frau Papadaki hat um die Übertragung dieses Teils gebeten; der Leser kann ihn als Muster ihrer Diktion betrachten.]

«Rallus Schwangerschaft kam aus dem Nirgendwo, ein Blitz aus heiterem Himmel, und Andonis Kambanis quälte sich damit, sich zu erinnern, wie und wann es zur Empfängnis gekommen war. Er zählte die Tage und wollte sie auf den Kalender quetschen, er erinnerte sich halbwegs an etwas, war sich dessen aber nicht sicher, guckte sie dauernd schief an, und die mehr oder weniger häufigen Male, da ihn seine Hand juckte und er drauf und dran war, sie gegen sie zu erheben, bereute er es wieder und steckte sie in die Hosentasche zurück; das Kind war ja zweifellos von ihm, und ein, zwei Ohrfeigen, die er ihr bei einem kleinen Streit gab, waren vorüberziehende Wolken, fast wie eheliche Streicheleien, schließlich und endlich war er doch die Säule, der Mann im Haus, der immer recht hatte, und er bemühte sich sehr, es ihr an nichts fehlen zu lassen, es gab immer Eisblöcke im Haus, Obst, Gemüse und Fleisch, und er brachte ihr ständig kleine Geschenke mit, handgenähte Jäckchen und Babyanzüge, und Rallu fühlte sich, obwohl sie doch nur zweieinhalb Kilo in vier Monaten zugenommen hatte, als ob sie einen Stein in sich herumschleppte, den man sie zu schlucken gezwungen und der sich in ihrem Magen festgesetzt und dort Wurzeln geschlagen hätte und ihre Eingeweide zerrisse. Und je mehr kleine Karaffen Uso sie trank, desto schwerer wurde der Stein vor lauter Trotz und brachte etwas wie neue Ableger hervor, und in der ersten Zeit konnte sie nicht erkennen, ob der Stein oder der Alkohol schuld war an ihrem Erbrechen im Badezimmer, und dann grübelte sie nicht mehr darüber nach und fand sich damit ab, dass sie mit einem Stein  schwanger ging, und ständig schrie sie den Embryo betrunken an, sie werde ihn Petros nennen, und das solle beider Geheimnis sein –Petros vom Wort petra, ihrer Steinlast-, und in ihrer Trunkenheit benannte sie ihn in zärtlichem Ton, aber mit schweinischen Wörtern, dann fiel sie in tiefen Schlaf und träumte von blutigen, tiefen und steilen Schluchten mit toten, abgeschlachteten Kälbchen auf deren Grund, eingeschlossen in durchsichtige, luftdichte Säcke.

So kam Vassilis aus ihrer Gebärmutter, gebadet in Blut und ihrem Kindeswasser, und für einen Augenblick glaubte sie, dass auch sein Weinen ein primitives Überbleibsel aus ihr selbst heraus sei, und erst, als die Schere die Nabelschnur zerschnitten hatte, holte Rallu tief Luft, drehte sich auf die Seite und kam zur Ruhe, denn sie wusste gut –und würde sich nicht bemühen, ihr Schicksal zu ändern–, dass sie diesen Jungen nicht lieben würde, er hatte ihre Verdammung auf die Welt gebracht, dieser Junge, der bald wachsen, eine eigene Stimme und Urteilskraft, überhaupt ein eigenes Wesen erlangen würde; und als man ihn ihr in den Arm legte, damit sie ihn säugte, verdunkelte sich ihr Blick, ihre Hände schubsten das Kleinkind weg von der schmerzenden Brustwarze, und die Oberschwester lief herbei, um es ihr aus den Händen zu nehmen, denn etwas im Blick der Wöchnerin erschreckte sie, und sie beauftragte ihre Untergebene, schnell den Arzt zu rufen, um ihn zu informieren; und Rallu starrte eine Weile die schneeweiße Zimmerdecke an und sprach dann vierzig Tage lang mit keinem Menschen. Und während der ganzen Wochen ihrer Trauer, als sie mit dem Baby zuhause sozusagen eingesperrt war, verschloss sie ihm den Mund mit dem Fläschchen, damit es nicht nach Milch verlangte; eigene Milch gab sie ihm nie, und Andonis Kambanis, der anwesend war, sich aber wie abwesend verhielt, nahm die Ratschläge des Arztes nicht ernst, auf Frau und Kind gut aufzupassen, er war sicher, dass sich alles mit der Zeit einspielen würde, aber während er ruhig den Schlaf des Gerechten zuhause oder im Laden schlief, vergrößerte sich Rallus Hass wie Risse, die den Widerstand des Baumaterials untergraben, so dass ein unbedeutendes Erzittern der Erde, ein vorzeitiges Schubsen oder sei es auch nur ein unglückseliger und unerwünschter Erdrutsch, den Bau in Gefahr bringen würde, und Rallu leerte eine Karaffe nach der anderen, konnte sich kaum mehr auf den Beinen halten -nach einem weiteren Schluck wäre sie umgekippt-, während neben ihr das sechs Monate alte Kind weinte, klagte und um sich schlug; der Arzt hatte ihnen gesagt, dass es bald die ersten Zähnchen bekäme, und Rallu stützte sich auf die Wiege des Kleinen, füllte die Nuggelflasche mit Uso und gab sie ihm zur Beruhigung, und er trank und wurde ruhig.

Andonis Kambanis wusste zwar, dass seine Frau gewohnheitsmäßig trank, hatte aber keine Ahnung, wie oft, weil sie sich auf zwei Fläschchen pro Woche geeinigt hatten, Rallu aber verschaffte sich von einem griechischen Gemüsehändler viel mehr, einem entfernten Verwandten aus ihrem Heimatdorf, der selbst Trinker war, Blutsbande einigten sie also, und er brachte es nicht über sich, sie zu enttäuschen, kannte selbst mehr als zur Genüge die Verlockungen des Trinkens und schickte manchmal mittags oder nachmittags, wenn alles ausgetrunken war und sie kein Geld mehr hatte, mit dem Laufburschen ein, zwei spendierte Karaffen, mit Wasser verdünnt, oder eine Korbflasche Retsina geringer Qualität, damit sie ihre Verbitterung runterspülte, Geruch und Geschmack spürte, bevor sie sich den familiären Pflichten zuwandte und wieder in der ehelichen Routine aufging; einzig das Kochen machte Rallu richtig und ganz bewusst, ihre Hände waren, obwohl sie oft berauscht, wenn nicht gar betrunken war, vollkommen ruhig, ihre Saucen, Fleisch- und Gemüsegerichte dufteten wunderbar, sie hatte Talent und gewiss verschwendete sie es, und weil es immer einen Teller gut zubereiteter Hausmannskost gab, kam Andonis Kambanis nicht dahinter, wie groß ihr Suchtproblem war; nur der kleine Vassilis ahnte, obwohl er noch nicht sprechen konnte, den unauslöschlichen Hass seiner Mutter, der in gespenstischer Weise ihn und die Familie betraf, und lebte jeden Tag mit der Beklemmung und den Ausdünstungen des Alkohols, die das Zimmer überschwemmten und die Wände mit säuerlichem Geschmack überzogen, der seinen Mund austrocknete und ihm den Magen umdrehte; seiner Mutter näherte er sich kaum jemals, und auch seinem Vater ging er, soweit möglich, aus dem Weg, weil der jähzornig und grob war, und so hatte er eine Stütze in phantastischen Geschichten mit unsichtbaren Superhelden gefunden, die im großen Sofa wohnten, sich um ihn kümmerten und den geheimen Auftrag hatten, dass sich niemand nähern durfte, der ihm Böses antun könnte.

Und das Böse kam immer in ganz kleinen, fast zu vernachlässigenden Dosierungen, es brach nie heftig aus, sondern umgab einen heimtückisch, fast milde, so dass man sich daran gewöhnte, und hinterließ keine endgültigen, unauslöschlichen Spuren, nur quasi oberflächliche Fingerabdrücke und dunkle Stellen, die wie die Jahreszeiten Farbe und Gestalt wechselten, ein „Streicheln“ mit Vaters Gürtel, eine Ohrfeige mit Mutters Pantoffel und ständiges Geschimpfe über einen zerbrochenen Teller, ein schmutziges Glas, geschmolzenes Eis, tropfendes Wasser, Essen, das unberührt geblieben war, und so kamen seine ersten kindlichen Worte hervor, nicht um die Gegenstände zu benennen, sondern um die kleinen böswilligen Rachetaten zu begleiten und zu benennen, die alle zusammen Macht ausübten, sich sammelten und überlagerten wie abgebröckelte Steinchen eines verhassten, abschreckenden Mosaiks, das die Heilige Familie darstellen sollte, aber niemals fertig wurde, ein Mosaik, auf dem lange und dünne Gestalten vorherrschten, Hampelmänner der Güte, die keine Sprache hatten, womit sie um Vergebung hätten bitten können, sondern nur feurige Augen, die sich zu rächen suchten.

Drei volle Jahre waren seit Vassilis Kambanis‘ Geburt vergangen, und der Kleine konnte nur mit Mühe und Not zweiwortige Sätzchen bilden, seine Entwicklung kam quälend langsam voran, und Andonis Kambanis, ungeduldig, ihm beizubringen, was sein einziger Sohn wissen müsste, stieß auf keinerlei Interesse bei seinen nachmittäglichen Lehrversuchen, außer einem kurzen forschenden Blick, der sich aber sogleich zu Boden senkte und auf seine Kinderschuhe fiel, denn die Lieblingstätigkeit des kleinen Vassilis war, seine Schuhbänder zu lösen und wieder zusammenzubinden, er konnte sich stundenlang mit losen Schleifen und Knoten beschäftigen, es war die Lösung, die er gefunden hatte, um überhaupt etwas mit seiner Zeit anzufangen, und während er sich mit dem Binden und Wiederaufmachen der Kordeln beschäftigte, vergaß Rallu ihn, und wenn er so band und löste, war Andonis Kambanis ganz zerstreut, denn dieser Rhythmus schläferte ihn ein, die schweigsame Wiederholung einer unsinnigen Tätigkeit; und eines Morgens an einem Werktag –einem der wenigen Male, an den Andonis ihn mit ins Geschäft genommen hatte, um ihn mit den Werkzeugen und der Örtlichkeit vertraut zu machen–, kam Papa-Stelios herein und gab mit seiner zischenden Aussprache von Serres, die einem auf die Ohren geht, den Auftrag, ihm sein gutes Paar Schuhe für Samstag, wenn seine älteste Tochter heiraten würde, schön herzurichten; wie er sich dabei umsah, fiel sein Blick auf den Kleinen, und er fragte ihn, wie er heiße; und er blieb ein zweites, drittes und viertes Mal bei seiner Frage, und sein Bart war enorm lang und grau, seine Augen schwarz und schrecklich, wie sie so die eine und einzige Wahrheit einforderten, und da fing Vassilis an zu weinen und sprach seinen ersten längeren zusammenhängenden Satz».

Es geht mit der Behauptung des Kleinen weiter, dass er Petros heiße, seine Mutter nenne ihn so. Im Hause Kambanis herrscht oft väterliche Gewalt, die mal die Ehefrau, mal den kleinen Sohn trifft. In diesem Fall tobt der Vater und schreit, hier gäbe es keinen Petros, nur einen Vassilis. Jedoch schafft es dieser Dreikäsehoch, die Form des Namens für sich durchzusetzen, die ihn als amerikanischen Staatsbürger kennzeichnen wird:

«An einem Morgen hatte also der dreijährige Vassilis seine Fähigkeit zu sprechen erreicht – man hätte sagen können, seine Zunge habe sich vom Gaumen gelöst, die Stummheit fiel von ihm ab, er fand auf geheimnisvolle und unerwartete Weise die passenden Worte, um eine klare Aussage von sich zu geben, und die ersten zusammenhängenden Worte ließ er auf Englisch hören, mit untadeliger Aussprache; er war ein echter Amerikaner, ein kräftiger, etwas dunkler einheimischer Junge, der auch einige Zentimeter gewachsen war, und er hatte einen Trennungsstrich zu seinen Eltern gezogen, die Verkündung seiner Unabhängigkeit hatte mit dem Sprechen begonnen, nichts verband ihn mit dem heimatlichen, armen und wasserlosen Land, und das „Vassilis“ wurde schnell in seinem Mund, aufgrund seiner Beharrlichkeit, „Basil“, weil er kein Grieche war und sich auch nicht so fühlte».

Die Situation des Ausländers, der sich nicht ganz konform mit den Behörden der „neuen Heimat“ verhält, stellt sich für Andonis Kambanis während des 2. Weltkrieges ein, weil er italienische Ausweise besitzt und sich nicht rechtzeitig bemüht hat, die amerikanische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Er wird als innerer Feind verhaftet und eine Woche lang verhört, aber unter Auflagen freigelassen. 1943 bekommt sein Sohn Basil die amerikanische Staatsbürgerschaft, ihm jedoch verweigern sie die Behörden. Dessen aber nicht genug, die Familie wird von einem schrecklichen Unglück getroffen: Eines Tages rennt Rallu aus dem Haus, schwer alkoholisiert, und wird von einem Auto erfasst. Hiermit ist ihr Schicksal und natürlich das der ganzen Familie besiegelt. Sie bleibt an den oberen und unteren Extremitäten gelähmt, wird also ein schwerer, lebenslanger Pflegefall. Die Qualen des kleinen Basil werden ab dem Zeitpunkt doppelt und dreifach. Der Kleine wünscht sich jeden Abend den Tod seiner Mutter, und etwas später in der ersten Grundschulklasse muss er den Spott seiner Mitschüler ertragen, «er war der Sohn der Alkoholikerin. Er trug ein Kreuz zu Hause und stieg auf ein  Golgatha in der Schule». Der Vater ist abwesend, den ganzen Tag bei seiner Arbeit, das Kind muss lernen, die Hausarbeit und die Pflege seiner Mutter zu erledigen. Basil lernt sein Schicksal ertragen, rebelliert nicht, wird zurückhaltend und weich. Die Psychographie der Personen bleibt jedoch nicht dauerhaft in dunklen Farben. Die Autorin besitzt die Klugheit, ihre Helden mit Geduld und Akzeptanz, sogar mit einem Hauch Humor zu gestalten, damit sie ihr Leid etwas leichter ertragen können. Die Gestalten gewinnen an Reife und Größe. Kambanis beginnt nachts seine Frau im Rollstuhl spazieren zu fahren, die beiden finden im Unglück näher zueinander.

«Er liebte sie [jetzt] wegen ihres Unglücks, es waren seine Schuldgefühle und die Jahre, die ihn weicher gemacht hatten. Im vorzeitig gealterten Gesicht von Rallu… sah er das Unglück und die Verzweiflung seiner alten Mutter, die er vor fünfundzwanzig Jahren in Hunger und Armut allein zurückgelassen hatte… und er schwor, dass er bei Rallu bis zu ihrem Ende bleiben werde. So schob er den Rollstuhl jeden Sonntag auf und ab, er nahm seine Familie, nämlich seinen Sohn, seine Frau und den Rollstuhl, mit, um in der Konditorei „Omonoia“ eine Erfrischung zu trinken oder einen Sirupkuchen mit einem Bällchen Eis zu essen».

Kambanis‘ Versuche, seine drei Geschäfte zu retten, schlagen fehl, so ist denn für ihn der amerikanische Traum ausgeträumt. Rallu stirbt friedlich im Schlaf, und Andonis Kambanis beendet sein Leben im Altenheim. Die Parallelität der Schicksale zwischen Vater und Sohn offenbart sich schon im Anfangskapitel des Romans, der mit der Geschichte der Junior-Familie anfängt und in dem es heißt, dass Basil und seine Frau Susan –unvernünftig optimistisch–  im runtergewirtschafteten Camden blieben, um ihr Hab und Gut verschwinden zu sehen, während ihre Träume gleichzeitig verloren gingen. Basils Geschichte bildet den zweiten Erzählstrang des Romans. Seine unglückliche Kindheit, von den bekannten familiären Unzulänglichkeiten geprägt, prädestiniert seinen ganzen Lebenslauf. Basil entwickelt sich zu einer schwachen, entscheidungsunfähigen, aber immer netten, gütigen und menschlich aufgeschlossenen Person. Allein die Tatsache, dass er Susan mit einem unehelichen Kind heiratet, dieses Kind als sein eigenes betrachtet und mit Eifer zu erziehen versucht, bezeugt das gütige und humane Element seines Charakters. Von finanziellen Schwierigkeiten geplagt, zögert er nicht, 

Mini, eine verwaiste Mitschülerin seiner Tochter Lito, in sein Haus aufzunehmen. Die Geschichte dieses Mädchens, das aus einer lateinamerikanischen Flüchtlingsfamilie stammt, bildet zusammen mit jener von Lito einen zusätzlichen Nebenstrang, der dem Text den Teilaspekt eines Jugendromans verleiht. In sich oft wiederholenden Teilen der Innenperspektive, mit Humor und feiner Ironie beschreibt die Autorin den Einstieg der zwei sehr unterschiedlichen Mädchen in die Pubertät. Lito, Susans Tochter, ist ein rebellischer Charakter, der den Kampf gegen die Eltern und die übrigen Erwachsenen gern auf sich nimmt, während Mini, die gütig aufgenommene Waise, ihre Anwesenheit im fremden Haus in leisen Tönen zu gestalten versucht.

Der Roman, der vordergründig die Männerfiguren (Vater und Sohn) darzustellen scheint, gewinnt schnell einen gewichtigen weiblichen Teil hinzu, der Rallu und Susan betrifft. Diese zwei sehr unterschiedlichen Frauen, die griechische Einwanderin und die einheimische politische Ideologin der ’68er Jahre, im Grunde zwei starke Charaktere, schaffen es doch nicht, das mittelmäßige, allgemeingültige weibliche Los zu bezwingen. Schwierige Beziehungen zu den Männern, Alkohol bei der ersten, Unentschlossenheit bei der zweiten, zerstören ihre Ehen und mittelbar das Leben ihrer Kinder. Susan, die mit ihrer Tochter überfordert ist, entwickelt ein inniges, mütterliches Gefühl für die verwaiste Mini, zögert aber nicht, ohne Basil zu informieren, das gemeinsame Kind abzutreiben. Basils kurzfristiger Wunsch, mit seiner Familie nach Griechenland auszuwandern, um seine Ehe zu retten, scheitert an Susans endlich fest gefasstem Entschluss, sich scheiden zu lassen und in Amerika zu bleiben. So ist auch für die zweite Generation der sogenannte „amerikanische Traum“ geplatzt. Wie Vangelis Chatzivasiliu treffend bemerkt, stellt die Autorin dieses zweifache Scheitern von Vater und Sohn eindeutig in den sozialen und wirtschaftlichen Kontext der jeweiligen Epoche, was bedeutet, dass die Bemühungen, so intensiv sie auch immer sein mögen, nicht unbedingt zum Erfolg führen können, wenn die Allgemeinheit leidet, wenn das soziale und politische Klima den Misserfolg prädestiniert. Hiermit wird natürlich eine unterschwellige Parallelitätslinie zur griechischen Wirtschaftskrise der letzten Jahre gezogen.

Der Text ist in rhythmischer Prosa konzipiert, eine Tatsache, die in Kombination mit den langen Satzeinheiten und den poetischen Mottos, welche jedes Kapitel einleiten, dem gesamten Werk einen dichterischen Anflug verleiht. Die Mottos stammen von Nicholas Virgilio und Walt Whitman, zwei Dichtern, die mit Camden eng verbunden waren. Virgilio ist bekannt für seine Haikus, diese traditionelle japanische Lyrikform, die aus drei Wortgruppen von 5 – 7 – 5 Lauteinheiten besteht, also minimalistischen Gedichten, die sich als Motto sehr gut eignen, weil sie in drei Versen einen vollständigen poetischen Sinn enthalten. Whitman wiederum gilt als Begründer der modernen amerikanischen Dichtung und hatte bedeutende Ausstrahlung nach Europa. Er passt sehr gut als Hintergrund des Romans „Dendrites“, weil er der Dynamik und dem expansiven Menschheitsglauben Amerikas, also dem „amerikanischen Traum“, einen gültigen Ausdruck verlieh. Interessanterweise bekommen die Kapitel, welche das Leben von Basil betreffen, Haikumottos, während die Kambanis-Kapitel mit nur zwei Ausnahmen Whitman-Mottos erhalten. Im Schlusskapitel, welches das Schneeflockenmuseum betrifft, findet die Preisung der Schönheit, der Einmaligkeit aber auch der Vergänglichkeit der Schneeflocke statt. Der Schnee mit allen diesen Eigenschaften schließt auch den Roman ab, indem er in seiner vollen Metaphorik die Einmaligkeit des Lebens der Gestalten mit allen ihren Freuden, Trauer, Erfolgen und Misserfolgen beendet.