Deutsch-Griechische Gesellschaft Hamburg

Deutsch-griechische Annäherungen durch Kulturtransfer – Einladung zu einer Neuverortung

Prof. Dr. Miltos Pechlivanos
Direktor des Centrums Modernes Griechenland an der Freien Universität Berlin

Prof. Pechlivanos

Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren,

als Vertreter des an der Freien Universität Berlin 2014 gegründeten „Centrum Modernes Griechenland“ und 2. Vorsitzender der Berliner DGG ist es mir eine freudenvolle Ehre, meine herzlichsten Glückwünsche zum 100jährigen Bestehen und für die nächsten einhundert Jahre der Hamburger Deutsch-Griechischen Gesellschaft aussprechen zu dürfen. Xρόνια πολλά!

Die bilateralen Gesellschaften der Philhellenen und Deutschfreunde, geboren aus dem Geiste des bildungsbürgerlichen und öffentlichkeitsaktiven deutschen Vereinswesens und gegründet auf einer Epochenschwelle, die unverhofft in das „kurze“ 20. Jahrhundert der Extreme geführt hat, zeugen von der Hartnäckigkeit der Verflechtungen zwischen der griechischen und der deutschen Kulturgeschichte, von einer zu reflektierenden Kontinuität und Diskontinuität wechselseitiger Wahrnehmungsmuster, die bis zu der jüngsten Wiederkehr jeglicher verdrängter Stereotypenkomplexe reicht. Erben des Philhellenismus des 19. Jahrhunderts und seiner Ambivalenzen, haben die Gründungsväter und die damals weniger zahlreichen Gründungsmütter der Ortsgruppen der DGG in der Weimarer Republik für sich dezidiert eine zivilgesellschaftliche Vermittlungsrolle beansprucht. In der „Aufforderung zum Beitritt“ für neue Mitglieder der Ortsgruppe Hamburg vom Juni 1919 – die Geschäftsstelle befand sich damals in der Mönckebergstraße Barkhof 3 – lesen wir von der „Lösung einer schwierigen Aufgabe“. Vor dem Hintergrund der erklärten Ziele der Gesellschaft, „das klassische Altertum als die gemeinsame Grundlage griechischer und deutscher Kultur zu pflegen“ und „die Beziehungen zwischen modernem Deutschtum und Griechentum zu festigen und zu vertiefen“, im doppelten Horizont etwa des gelehrten Hermes und des Handelsgottes Merkur, der bildungsträchtigen Wissenschaft und der kapitalträchtigen Wirtschaft, ist in diesem Dokument ein zeitpolitisches Desiderat unüberhörbar: die politische Freundschaft Deutschlands zur Türkei sei eine „Hinderung für die gegenseitige Annäherung“ in einer Zeit, in der „die politische Neugestaltung im Orient in der Richtung einer bedeutenden Stärkung des griechischen Elements“ verlaufe, und der „große Gedanke, nämlich die staatliche Sammlung der wichtigsten hellenischen Volksteile zu einem Ganzen … vor seiner Verwirklichung“ stehe. Gerade weil „die Gemeinschaft der geistigen Quellen“ eine „Verwandtschaft zwischen Griechentum und Deutschtum geschaffen“ habe, versicherte sich die Ortsgruppe, mitten im griechisch-türkischen Krieg und knapp 25 Monate vor dem Schiffbruch des „großen Gedankens“ im Hafen von Smyrna, „unter Wahrung der Würde des Deutschtums mit Hilfe des Griechentums im Orient, das zu erstreben, was deutscher Intelligenz, deutschem Handel, Gewerbefleiß und Kapital von Nutzen werden könnte“.

Die „Aufforderung zum Beitritt“ von 1919 dürfte als Beispiel genügen, um der Komplexität der bilateralen Annäherungen zwischen Zeit- bzw. Realpolitik einerseits und andererseits kulturellen Konstruktionen bzw. imaginativen Projektionen bewusst zu werden. Kulturvermittlung und kulturelle wie wissenschaftliche Transfers als bilaterale Annäherung haben ihren politischen Sitz im Leben, sogar der Begriff „auswärtige Kulturpolitik“ auf Deutsch entstand in der Zeit der Rivalität der Großmächte vor dem Ersten Weltkrieg. In einem materialreichen Aufsatz am Fallbeispiel Griechenland hat der Historiker Hagen Fleischer gezeigt, wie die kulturpolitische Rivalität der Großmächte in einem Land der Peripherie dem Wunsch diente, „die Ebenbürtigkeit – wenn nicht gar Überlegenheit – der eigenen Kultur und des dahinter stehenden politischen Willens und der wirtschaftlichen Macht unter Beweis zu stellen“. Die Beispiele ließen sich problemlos vermehren, hätte man die Zeit, die bilaterale Geschichte im 20. Jahrhundert durchzudeklinieren; um bei der Gründung der Ortsgruppe Hamburg und ihrem 1. Vorsitzenden, dem Althistoriker Erich Ziebarth, zu verweilen, erstrebenswert wäre eine genaue Lektüre seiner 1940 in der Reihe „Schriften des Deutschen Instituts für Außenpolitische Forschung“ erschienenen Studie mit dem Titel Zypern. Griechen unter britischer Gewalt, seines Plädoyers gegen den britischen Kolonialismus und für „die eine süße und tröstende Hoffnung [der Zyprier] auf eine Vereinigung mit dem griechischen Mutterland“. Dieser politische Sitz im Leben wird jedoch in allen seinen Manifestationen und Transformationen aus kulturhistorischen Konstruktionen, neudeutsch Narrativen, untermauert, die die beiden verspäteten Kulturnationen in engste Verbindung gebracht haben, so dass die Rede sogar von einer Tyrannei von Hellas über Deutschland möglich wurde, oder wieder spiegelbildlich die Tyrannei des deutschen Bildes vom Kulturraum Hellas über das zeitgenössische Griechenland behauptet wird; in letzter Zeit liest man so immer wieder in der Forschungsliteratur von einem angeblichen Krypto-kolonialismus.

Es ist die Aufgabe der deutschen Neogräzistik bzw. der interkulturellen Germanistik, eine Kartierung dieser mannigfaltigen Verflechtungen vorzunehmen, die „blinden Flecke“ der gemeinsamen Geschichte konsequent zu kontextualisieren, Akteure und Netzwerke, Praktiken und Strukturen zu thematisieren, um letztendlich die diskursiven Konstruktionen zu verstehen, über die die deutsch-griechischen Interaktionen gedanklich strukturiert wurden und die sich teilweise bis heute auf die gegenseitige Wahrnehmung auswirken oder wieder vergessen wurden – etwa die vor 100 Jahren so passioniert postulierte Verwandtschaft zwischen Deutschen und Griechen, die für das deutsche Bürgertum konstitutiv gewesen ist. Im Centrum Modernes Griechenland haben wir uns deswegen vorgenommen, parallel zu unseren weiteren Initiativen, mit denen Brücken zwischen Griechenland und Deutschland geschlagen werden, etwa der Online-Bibliothek der Edition Romiosini, ein Kompendium der deutsch-griechischen Verflechtungen als Langzeitprojekt zu lancieren. Eine Neuverortung der historischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Transfers zwischen der griechischen und der deutschen Kulturgeschichte – notwendig aufgrund der mannigfaltigen Verzerrungen unserer gemeinsamen Geschichte, ihrer Vereinnahmung mit der Antikenfunktionalisierung im Dritten Reich bzw. wegen der verspäteten Aufarbeitung der deutschen Okkupation und ihrer Gräueltaten – ist die Bedingung der Möglichkeit jeglicher bilateraler Annäherung durch künftige Kulturtransfers, etwa im Sinne des deutsch-griechischen Jugendwerks und der Deutsch-Griechischen Gesellschaften und deren Vereinigung, die ebenfalls heute schwierige Aufgaben zu lösen haben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

vor 190 Jahren, am 18. August 1828, adressierte Wilhelm von Humboldt einen Brief an den neuhumanistischen Philologen und Pädagogen Friedrich Thiersch nach der Lektüre von dessen Abhandlung „Über die neugriechische Poesie, besonders über ihr rhythmisches und dichterisches Verhältnis zur altgriechischen“. Humboldt wusste zu würdigen, dass auf die Nation der zeitgenössischen Griechen „sehr viel von ihren Voreltern übergegangen ist“, sogar „durch ihr Unglück und ihre Kämpfe vielleicht mehr Charakter und Männlichkeit gewonnen hat, als man von den spätesten unter den alten Griechen rühmen kann“, betonte aber zugleich: „Es ist nichts so niederschlagend, als unübertreffliche Muster gegen sich über zu haben, und doch nicht vermeiden zu können, gegen sie anzuringen“. Auf seinen anschließenden Rat, der auf eine erfrischende Weise quer zur philhellenischen Verkennung des zeitgenössischen Griechenlands stand, haben im nationalen Rausch des 19. Jahrhunderts Philhellenen und Deutschfreunde, um von den Griechen selbst ganz zu schweigen, nicht immer die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt: „Was ich behaupten möchte, ist nur, dass, was man den Griechen am wenigsten raten muss, ist mit ihren Gedanken und Studien in das Altgriechische und die altgriechische Zeit zurückzugehen. Könnte man ihnen alle Bücher aus dieser nehmen, das Bewusstsein davon ganz in ihnen vernichten, und sie ganz aus sich selbst und ihrer Zeit hervorgehen lassen, so möchte das, sollte ich glauben, das Beste sein. Erhalten sie wirklich ein bedeutendes, mannigfaltiges, bewegtes politisches und commercielles Leben, so wird das auch von selbst geschehen. Das neue und frische Leben wird dann bald inne werden, dass man keine Schatten aus der Vorzeit hervorrufen kann“.

Dieses „neue und frische Leben“ hat das moderne Griechenland, oft sich auseinandersetzend mit einem kulturkonservativ oder -reaktionär präformierten Vorverständnis vom Kulturraum Hellas erhalten, man denke an die Militärdiktatur, trotz des Jahrhunderts der Extreme und der Ideologien, des Krieges, des Bürgerkrieges und der Haushaltsdefizite. Dem sind die neuen deutsch-griechischen Wahrnehmungsmuster nach dem Neuanfang der 60er Jahre zu verdanken jenseits der bildungsbürgerlichen deutschgriechischen Verwandtschaft, ob die folkloristischen und eskapistischen Bilder der Tourismusindustrie, die Solidarität und die demokratische Gesinnung in Theodorakis’ Konzerten der 70er Jahre, oder die Transposition Griechenlands in die mentale Geographie eines globalen Südens in der jüngsten documenta. Anything goes? Es handelt sich um unsere schwierige Aufgabe im 21. Jahrhundert, die sich jenseits von nationalen Leitkulturen mit der europäischen Quadratur des bilateralen Kreises befassen soll. Es möge gelingen, dass Philhellenen und Deutschfreunde in den nächsten einhundert Jahren als Teil einer plural organisierten europäischen Gesellschaft an einer offenen Integration gemeinsam arbeiten werden. In einer Gesellschaft, die sich der Schatten ihrer Vorzeit versichert hat, ohne in ihrem Schatten zu verharren.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit!