Marioupolis – Die Stadt der Gottesmutter in der Ukraine

Marioupolis – Die Stadt der Gottesmutter in der Ukraine

Während die Weltöffentlichkeit fassungslos auf die Entwicklungen in der Ukraine nach dem militärischen Überfall der Russischen Föderation blickt, wächst in Griechenland die Sorge um das Schicksal der griechischen Minderheit im Land, die ca. 150.000 Menschen zählt. In der besonders umkämpften Hafen- und Universitätsstadt Mariupol ist der größte Teil der ukrainischen Griechen seit Jahrhunderten ansässig.

Bereits zu Beginn der russischen Bombardements wurden in Mariupol und den umliegenden griechischsprachigen Dörfern zwölf Mitglieder der Minderheit getötet. Griechenland protestierte scharf und widersprach der Behauptung Russlands, die Ukrainer seien für den Tod der Angehörigen der Minderheit verantwortlich. Es seien eindeutig russische Bomben, welche die griechisch-orthodoxen Glaubensbrüder töteten, hieß es aus der griechischen Hauptstadt.

Inzwischen ist die Zahl der toten Zivilisten in Mariupol und in den 23 griechischsprachigen Dörfern der Umgebung auf über 3000 gestiegen. Die Region erlebt eine nie dagewesene Tragödie.

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Tweet des ukrainischen Außenministers Dmytro Kuleba vom 16.03.2022
nach dem Bombardement des Drama Theaters, in dem Hunderte von
Zivilisten, unter ihnen viele Kinder, Zuflucht gefunden hatten!

Die Kultur der Minderheit in Gefahr

Alexandra Prozenko, Präsidentin des Dachverbandes der griechischen Gemeindevereine in der Ukraine, richtete am 13. März 2022 aus dem belagerten Mariupol einen dramatischen Appell an die griechische Regierung und die Weltöffentlichkeit, Druck auf Russland auszuüben um einen „grünen Korridor“ für die Evakuierung der Zivilbevölkerung zu errichten. „Die griechische Minderheit in Mariupol erlebt eine humanitäre Katastrophe“ sagte sie. Der Krieg zerstöre „die einmalige kulturelle und historische Rolle der Stadt für die Erhaltung der Kultur der Griechen am Asowschen Meer“.

Griechischstämmige Ukrainer Leben heute in 21 Regionen des Landes und bilden 95 griechische Gemeindevereine, die zu einem Dachverband zusammengeschlossen sind. Mariupol gilt als das Zentrum – die Metropolis – der griechischen Diaspora im Land. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war die Mehrheit der Stadtbevölkerung von Mariupol griechischen Ursprungs. Bis zum Jahr 1859 war es sogar nicht erlaubt, dass sich Nicht-Griechen dort niederlassen.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR wanderten viele griechische Ukrainer nach Griechenland aus. Sie bilden jedoch neben Armeniern, Tataren, Bulgaren und Weißrussen weiterhin eine der größten Minderheiten dort.

Seit der russischen Invasion der Krim 2014 sind auch viele ukrainische Flüchtlinge von dort nach Mariupol geflohen. Nach der letzten Volkszählung leben heute in der Stadt und in den umliegenden Dörfern 91.548 Personen griechischer Abstammung.

Wie kamen die Griechen nach Marioupolis?

Nach dem russisch-türkischen Krieg (1768 bis 1774) annektierte die russische Kaiserin Katharina die Große die bis dahin unter osmanischer Herrschaft stehende Halbinsel Krim. 1778 ordnete sie per Dekret die Ansiedlung von 50.000 dort lebenden Griechen in den Norden des Asowschen Meeres an.
An der Mündung des Flusses Kalmius, wo früher eine Kosakensiedlung stand, gründeten sie eine neue Stadt. Sie gaben ihr den griechischen Namen Marioupolis – Stadt der (Gottesmutter) Maria. Im Umkreis der Stadt entstanden mit der Zeit 23 griechischsprachige Dörfer. „Sie sollten ein christliches Bollwerk gegen die Muslime bilden“, so der bekannte Gräzist und Sprachforscher Prof. Günther S. Henrich.

Katharina II.
Zarin Katharina II. (Photo: SchnobbyCC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Durch die kaiserlichen Verordnungen von 1789 und 1790 erhielt die Region am Asowschen Meer, mit Marioupolis als Hauptstadt, den Status einer autonomen Verwaltungsregion. In den nächsten Jahrzehnten erlebten Marioupolis und ihre griechischen Bewohner eine beeindruckende kulturelle Entwicklung, in deren Zentrum die Pflege der griechischen Kultur und des lokalen Griechisch stand. 1928 gab es dort 39 griechische Grund- und sechs Mittelschulen mit 159 Lehrern. An der Pädagogischen Akademie bildete eine Abteilung ausschließlich Lehrer für die griechische Gemeinde aus. 1930 entstand ein Verlag, der Literatur im regionalen Dialekt und in neugriechischer Sprache herausgab. Ebenso erschien eine griechische Zeitung.

Die Griechen von Mariupol sprechen neben ukrainisch und russisch einen einmaligen griechischen Dialekt, den sie die „rumische Sprache“ nennen. Prof. Günther S. Henrich bezeichnet das „Mariupolitische“ als Variante des pontischen Dialekts, der ursprünglich im Süden der Krim von den dorthin geflüchteten Griechen vom südlichen Schwarzen Meer (griechisch: Pontos / Pontos-Griechen) gesprochen wurde.

Die Verfolgungen der Stalin-Zeit

Die Oktoberrevolution und insbesondere die Stalin-Zeit hatten einen grundlegenden Einfluss auf die Zukunft der griechischen Gemeinden. Im Dezember 1937 wurden die griechische Bildung verboten, die griechischen Schulen und die griechischen Druckhäuser geschlossen, die autonomen griechischen Regionen aufgehoben. Hunderte von Mitgliedern der Minderheit wurden in Scheinprozessen verurteilt und hingerichtet, unter ihnen fast alle griechischen Intellektuellen. Zu den Opfern gehörte auch der griechische Dichter Georgios (Georgi) Kostoprav. Er war der bekannteste Dichter, der sein Werk im rumischen Dialekt schuf und „eine rumische poetische Sprache entwickelte“. 30.000 Griechen wurden damals nach Sibirien deportiert. Um sich zu retten, ließen zahlreiche Griechen damals ihre Namen russifizieren.

Die Zeit nach 1953

Als Nikita Chruschtschow 1953 an die Macht kam, erhielten die Griechen in der Ukraine, wie in der restlichen UdSSR, eine gewisse politische Freiheit. Die Deportierten kehrten zurück.

Eine grundlegende Veränderung brachte die Machtübernahme durch Michail Gorbatschow: Im Januar 1989 wurde in Mariupol der erste griechische Kulturverein gegründet. Sein Hauptziel war die Wiedergeburt des griechischen mariupolitischen Dialekts und die Vermittlung der neugriechischen Sprache. Am 25. März desselben Jahres konnte zum ersten Mal der griechische Nationalfeiertag gefeiert und die griechische Nationalhymne gesungen werden.

Seit 1992 und bis 2000 sendete das lokale öffentliche Radio zweimal im Monat die griechischsprachige Sendung „Kalispera“, während im Donbass die Zeitung „Logos“ erschien. Seit 1994 erscheint in Mariupol die Zeitung des griechischen Vereins mit dem Titel „Chronos“.

Hunderte von Kindern werden seitdem in der griechischen Sprache unterrichtet von Lehrern, die in den Lehrstühlen für Neugriechisch an den Hochschulen in Mariupol, Kiew oder Simferopol ausgebildet werden.

In den letzten Jahrzehnten sind die Mitglieder der Minderheit in der ganzen Gesellschaft vertreten. Sie betätigen sich unter anderem als Ärzte, Ingenieure, Hochschullehrer und Unternehmer.

Bei den kriegerischen Auseinandersetzungen mit Russland wegen der Krim 2014 sind zahlreiche Ukraine-Griechen gestorben. Nach der Annexion der Halbinsel durch Moskau mussten einige griechische Gemeinden dem russischen Territorium zugeordnet werden.

Die ukrainischen Griechen – eine jahrhundertealte Geschichte

Die Griechen der Ukraine blicken auf eine 2500 Jahre währende Geschichte zurück. Bereits im 6. Jahrhundert v. Chr. begann die griechische Kolonisierung an der Küste des Schwarzen Meeres und auf der Krim. Die Griechen gehören zu den ältesten Völkern, die diese Region bevölkert haben – viel früher als die Tataren und die slawischen Stämme.

Seit 27 Jahrhunderten währt die griechische Präsenz dort ohne Unterbrechung. Es gibt wahrscheinlich weltweit kein anderes Land, in dem griechische Gemeinden in dieser Kontinuität leben.

Die alten Griechen nannten die Krim Tauris, abgeleitet vom Namen ihrer Bewohner, den Tauren. Herodot berichtet, dass Herakles einen riesigen Ochsen nutzte, um die Erde dort zu pflügen.

An der östlichen Schwarzmeerküste lag auch die antike Kolchis, die Heimat der Medea. In der Argonauten-Saga war dieses antike Königreich, das heute in Georgien liegt, das Ziel von Jason und der Argonauten auf der Suche nach dem Goldenen Vlies.

Odessa – verbunden mit dem Freiheitskampf der Griechen

Eine besondere historische Bedeutung für Griechenland hat die Hafenstadt Odessa, die viertgrößte Stadt der Ukraine, die wegen ihrer Schönheit „Perle des Schwarzen Meeres“ genannt wird: Dort hatte der 1814 gegründete Geheimbund, die »Φιλική Εταιρεία« (Gesellschaft der Freunde), seinen Sitz. Er bereitete die griechische Revolution gegen die osmanische Herrschaft 1821 vor. 1814 wurde in Odessa die erste griechische Schule für die Kinder der zahlreichen griechischen Gemeinden gegründet. Heute hat die in Odessa lebende griechische Gemeinde ca. 10.000 Mitglieder. Die Stadt beherbergt das Museum der »Φιλική Εταιρεία«.

pp/März 2022