Mikis Theodorakis: ein Leben für die Freiheit

Mikis Theodorakis: ein Leben für die Freiheit

1972, in Griechenland herrschen die Militärs, gibt Theodorakis in der vollbesetzten Berliner Philharmonie ein monumentales Konzert – Photo: P. M. Pantelouris

Mikis Theodorakis, der große griechische Komponist, Schriftsteller, Politiker und Widerstandskämpfer ist am 2. September 2021 in seinem Haus am Fuße der Akropolis von Athen im Alter von 96 Jahren gestorben und auf dem Friedhof von Galata, dem Geburtsort seines Vaters auf Kreta, beigesetzt worden. Er war nicht nur der größte griechische Komponist unserer Zeit. Für seine Landsleute war er die „Stimme des Volkes“, die „Stimme Griechenlands“. Er war ein Volksheld. „Heute haben wir ein Stück der griechischen Seele verloren“, erklärte die griechische Kulturministerin. Premierminister Mitsotakis verordnete eine dreitägige Staatstrauer.

Theodorakis Tod erschütterte nicht nur die Griechen. Die Nachricht seines Todes ging um die Welt, denn die Musik des 1925 auf der Insel Chios geborene Mikis (Michalis) hatte Millionen von Anhängern auch außerhalb Griechenlands gehabt. Viele im Ausland verbinden seinen Namen mit der Musik aus dem 1964 mit 3 Oscars prämierten Film „Zorbas the Greek“ (nach dem gleichnamigen Roman des Kreters Nikos Kazantzakis) und dem Sirtaki-Tanz, die ihn weltweit berühmt gemacht haben.
Theodorakis hat jedoch mehr als traditionelle griechische Lieder und kämpferische Widerstandslieder komponiert, die meistens auf Texten griechischer Dichter (unter ihnen zwei Nobelpreisträger) beruhen. Sein gesamtes Oeuvre umfasst ca. 3000 Kompositionen; neben den etwa 1000 Liedern sind Opern, Symphonien, Oratorien, Kammer-, Ballett- und Filmmusik, die in den großen Konzertsälen weltweit aufgeführt wurden, dem breiten Publikum jedoch zum Teil unbekannt geblieben sind. 

Mikis Theodorakis versinnbildlicht nicht nur die griechische Musik und die griechische Kultur, sondern gehört zu den prominentesten Vertretern des griechischen Widerstands gegen den Faschismus und die Diktaturen. Sein ganzes Leben war ein ständiger Kampf für die Freiheit seines Volkes. Diesen Kampf bezahlte er mit langjährigem Gefängnis, Folterungen und Verbannung.

Theodorakis beim legendärem Konzert in der Berliner Philharmonie 1972 – Photo: P. M. Pantelouris

Aus Anlass seines Todes möchten wir als Deutsch-Griechische Gesellschaft Hamburg im Folgendem Auszüge aus einem Artikel eines Freundes unserer Gesellschaft, des Hamburger Komponisten und Musikwissenschaftlers Dr. Gerhard Folkerts zitieren, den er zum 95. Geburtstag von Theodorakis geschrieben hat und der in der Zeitung „Junge Welt“ (29.7.2020) veröffentlicht wurde. Dr. Folkerts hat sich intensiv mit dem symphonischen Werk von Theodorakis auseinander gesetzt und war mit ihm befreundet. Das große Open-Air-Konzert zum 85.Geburtstag 2010 in Anwesenheit des Komponisten auf dem Lykabetos-Hügel in Athen durfte er, als einziger ausländischer Künstler, mit einem zehnminutigen Klaviersolo einleiten.

Mikis Theodorakis – Eine Jahrhundertpersönlichkeit

Dr. Folkerts schrieb 2020:
„Mikis Theodorakis ist eine Jahrhundertpersönlichkeit, die ihre künstlerische und politische Überzeugung bis heute bewahrt hat – als Komponist, Dirigent, Sänger, Dichter, ehemaliger Staatsminister und Widerstandskämpfer. Seine künstlerische Meisterschaft ist von seinem konkreten politischen Handeln in der jeweiligen historischen Situation nicht zu trennen. Aus seinen Kompositionen strahlen seine Überzeugungen und Kenntnisse auf uns zurück, bewegen und ergreifen uns. Theodorakis bildet mit seiner unbeugsamen Haltung Orientierung in den Stürmen der Geschichte und ist ein Kompass für politisch Schiffbrüchige.

Wo gibt es einen Komponisten der bereits durch zwei erklingende Akkorde erkannt wird? Dies gelingt Theodorakis mit seiner »Alexis Zorbas«-Musik. Mit dem Tanz des Zorbas greift er auf den Schatz griechischer Volksmusik zurück. Wie Antäus bleibt er der Erde und somit den Menschen verbunden. Er kennt die griechische Volksmusik mit ihren Tänzen und Liedern, die byzantinische Musik, den Rembetiko der griechischen (Kleinasien-)Flüchtlinge, die Kompositions­techniken europäisch klassischer Musik, die Widerstandslieder der Andarten (im II. Weltkrieg), der Kleften aus den Befreiungskriegen gegen die Türken. Hier liegen die Quellen seines imposanten Werks, das 1.000 Lieder, weltliche Oratorien wie den »Canto General« und »Axion Esti«, fünf Sinfonien, Kammer-, Ballett- und Filmmusik umfasst…

Der Dialog mit den Menschen seines Landes und seiner Epoche erwächst ihm aus einer besonderen Verantwortung, die darin besteht, »die Volkskunsttradition und jene Tradition, die den jeweiligen Kunstfortschritt der jeweiligen Epoche repräsentiert, miteinander zu verschmelzen, ohne aber die technischen Errungenschaften der zeitgenössischen Kunst zu verraten. Der Mensch muss sich im Kunstwerk erkennen können.«

Maria Farantouri (links) wurde bereits mit 16 Jahren Mitglied des Ensembles von Theodorakis und entwickelte sich zur wichtigsten Interpretin seiner Musik (Hier in der Berliner Philharmonie 1972) – Photo: P. M. Pantelouris

Theodorakis erlebt die Folgen der griechischen Flüchtlingsströme aus der Türkei, den II. Weltkrieg mit den Besatzungen durch Italiener, Deutsche und Bulgaren, den griechischen Bürgerkrieg von 1945 bis 1949 und die Militärdiktatur 1967 bis 1974. Er, der sich widersetzt, wird verfolgt, in Konzentrationslager und Gefängnisse gesperrt. Er organisiert den Widerstand gegen die Militärdiktatur 1967 und kann ins französische Exil flüchten. Er komponiert, wo es möglich ist. Seine Werke erlangen historische Bedeutung: Bereits 1939 wird sein »Lied vom Kapitän Zacharias« zum Widerstandslied der Marine. Dreißig Jahre später werden Stücke aus seinem Liederzyklus »Romiosini« zu geheimen Widerstandsliedern gegen die Obristen. Nach dem vom Militär blutig niedergeschlagenen Aufstand der Studenten des Polytechnikums in Athen gegen die Diktatur widmet Theodorakis den Studenten 1973 eine Hymne. 1982 komponiert er die Hymne der PLO. 1957 zeichnet eine mit Hanns Eisler, Darius Milhaud und Dmitri Schostakowitsch besetzte Jury in Moskau Theodorakis als einen der begabtesten Komponisten der jungen Generation mit der Goldmedaille aus. Ein Jahr später erhält er aus London einen Auftrag zur Komposition der Ballettmusik zu »Antigone«, die dann 1958 in Covent Garden uraufgeführt wird.

Wo gibt es ein Land, in dem die Vertonungen der Werke von Literaturnobelpreisträgern nicht nur in Konzertsälen, sondern in Tavernen und auf Straßen, auf politischen Veranstaltungen und in Konzerten gesungen werden? Und dies auch von Menschen, die nicht das Glück hatten, Schulbildung zu erlangen, ja nicht wissen, wer die Autoren der gesungenen Texte sind. Dies gelingt dem 1925 auf Chios geborenen Komponisten Mikis Theodorakis. Seine Kompositionen sind eng mit dem Schicksal der Menschen seines Landes verbunden. Den Streik der 500.000 Tabakarbeiter von Thessaloniki verarbeitete er im Liederzyklus »Epitaphios« und die Folgen des Bürgerkriegs in der »Die Ballade vom toten Bruder 1962« oder 1974 in »Canto General« dem Befreiungskampf der Völker Südamerikas.

Er gibt den unterdrückten Menschen eine Stimme

Mikis Theodorakis’ politisches und künstlerisches Ziel ist es, die »Wunde Makronisos« zu schließen, die Spaltung und Zerrissenheit Griechenlands zu überwinden, die Einheit des Volkes herzustellen. Stets mischt er sich mit seinen Kompositionen als handelnder politischer Staatsbürger in die Geschehnisse seines Landes ein und sorgt so dafür, dass Politik nicht auf Staatstätigkeit zusammenschrumpft. Damit zeigt er, was die Widerstandskraft des einzelnen bewirken kann. Und er gibt unterdrückten Menschen eine Stimme, die sich durch ihn in der Sprache der Musik wiederfinden.

…Theodorakis schafft mit dem Künstlerischen Volkslied eine neue Gattung der Musik. Seine Kompositionstechnik erreicht in seinen Liedern, dass die Hochliteratur unmittelbar Herz und Kopf der Hörer berührt. Anschluss an die griechische Musikkultur erlangt Theodorakis dort, wo ihre Unterdrückung begann. Daher die Anknüpfung an das Melodische, um jene Isolation, die einem Komponisten wie Nikos Skalkottas in Griechenland widerfuhr, zu verhindern. Theodorakis schafft dies durch die Verbindung europäisch-mittelalterlicher, arabischer und neuzeitlicher Tonsysteme.

Theodorakis und die Beatles – The Honeymoon Song!

Instrumentierung mit Bouzouki und Instrumenten klassischer Musik

Er erweckt in seinen Kompositionen neues musikalisches Leben, indem er in der Verbindung unterschiedlicher Musikkulturen ihre gemeinsamen Wurzeln hervorhebt und damit das Trennende zurückweist. Hörbar werden diese für uns ungewohnten Klangbilder, die Dromoi oder Makam im »Choros Asikikos für Cello-Solo« und in den Liederzyklen »Asikiko Poulaki« und »Dionysos«. Neu ist auch Theodorakis’ Instrumentierung in der er sowohl Volksinstrumente wie Bouzouki, Sandouri, Gitarren, Mandolinen, Klarinetten aus Epiros, verschiedenste Schlagwerke wie auch Instrumente klassischer Musik einsetzt. Ziel seines Komponierens ist es, ein Gleichgewicht zu schaffen zwischen eigener Intuition und kompositorischer Konstruktion, zwischen apollinisch-verstandesmäßigem und dionysisch-gefühlsmäßigem Prinzip.

Wer Konzerte mit Werken von Theodorakis besucht, findet Menschen aller Generationen, Klassen und Bildungsschichten, Menschen die ihre Sehnsüchte und ihre Klagen »über die quälenden Wunden der Welt« in seiner Musik wiederfinden. Mikis Theodorakis hat nach mehr als 400 Jahren osmanischer Fremd­herr­schaft den Griechen eine eigene Klangwelt und damit musikalische Identität zurückgegeben.

Theodorakis studierte während des griechischen Bürgerkrieges am Athener Konservatorium bei Filoktitis Ikonomidis und von 1954 bis 1959 in Paris bei Olivier Messiaen. Während des Bürgerkrieges komponierte er das Sextett für Querflöte, Klavier und Streichquartett, das Trio für Violine, Cello und Klavier und die 11 Preludien für Klavier.

Als ich nach meinem ersten Klavierabend in Athen Theodorakis fragte, weshalb er nicht 12 Präludien wie Bach, Chopin oder Schostakowitsch komponiert habe, sagte er mir, dies sei einfach zu beantworten, denn »nach dem elften wurde ich, als Mitglied der EAM, der nationalen Befreiungsbewegung Griechenlands, verhaftet und kam in das Todeslager Makronissos. Auf Makronissos duftete es nach Meer. Aus den Lautsprechern klangen die städtischen Volkslieder. Die Bouzouki ging wie ein Riss durchs Herz. Ich entdeckte ein neues Griechenland.«

Im Todeslager von Makronissos

Hier im Todeslager entstanden die Skizzen seiner 1. Sinfonie, die sämtlich verloren gingen. Später schrieb Theodorakis aus dem Gedächtnis die Noten auf. Er widmete die 1. Sinfonie seinen Jugendfreunden Vassilis Zannos und Makis Karlis, »den lebenden Toten« wie Theodorakis sie nennt. 1952 wird diese Sinfonie unter Theodorakis’ Leitung uraufgeführt. »Als 1940 die italienische Besatzung begann, wurde in den Tiefen der griechischen Gesellschaft ein neues Geräusch geboren und verschmolz sofort mit dem Geräusch der Waffen, Bombardements, Klagen, dem metallischen Klang in den befehlenden Stimmen der Eroberer, bald auch mit den ersten Schreien und Liedern der demonstrierenden Massen. Ich stand im Zentrum des ›Klangs‹ und suchte ihn dort, wo die Intensität am größten war. Diese ›Klänge‹ waren gigantisch und unfassbar, weil in ihnen die Todesahnung mitschwang. Sie waren aber dennoch so ›lebendig‹ gegenwärtig, dass der Eindruck entstand, das Bewusstsein könnte schnell stärker als der Tod werden. Der Klang als Ausdruck des Lebens in seinen existentiellen Augenblicken führte über den Tod hinaus. Der quälende Klang, der dich umbringt, ohne dich zu töten, ist der Klang der Folterungen. Makronisos ist für mich der Klang der Massenfolterungen. Es ist sicher kein Zufall, dass ich von diesen Erinnyen erst loskam, als ich 1959 zur Volksmusik fand und den ›Epitaphios‹ schrieb.«

»Meine Volksmusik, die zwischen 1959 und 1967 entstand, war aufs engste verbunden mit dem Volk, den Ereignissen und Kämpfen verbunden. Der Klang des Widerstands und Kampfes, der Klang der Verzweiflung in Gefängnissen und Lagern hörbar.«

Beispiele hierfür sind die »Mauthausen-Kantate« (1965), »Sonne und Zeit« (1967) und »Belagerungszustand« (1967), der Klang der Verbannung in Griechenland in »Marsch des Geistes (1969), »Den Kindern, getötet in Kriegen« (1982) und außerhalb des Landes in »Canto General« (1972) und im »Adagio für Flöte, Klarinette, Trompete und Streichorchester« (1992) gewidmet den Toten im Bosnien-Krieg.

Sein musikalisches Credo nennt Theodorakis in Jaques Coubarts Buch 1969: »Ich schreibe keine Lieder, um zu unterhalten. Es ist keine Musik, die vergessen lässt. Man muss Freude aus ihr gewinnen, dass man sich reicher, anspruchsvoller, stärker fühlt. Sie muss zum Nachdenken führen, zum Wunsch nach einem schöneren Leben. Darum muss sie Wurzeln im Gedächtnis des Volkes schlagen. Die Menschen, das Blut, die Toten der Vergangenheit finden sich wieder, nicht um Hass, sondern um Liebe zu säen.«

Mikis Theodorakis Erotic dance – Aus: Symphonic Works No.1
Musik als Vermittlerin

Wer Mikis Theodorakis begegnet, ist fasziniert von der emotionalen Wärme, der Aura, den von ihm versprühten geistigen Funken, der Direktheit dieses Mannes. Seine Persönlichkeit spiegelt sich in seiner Musik. Seine Kompositionen und Gedichte sind Seiten eines offenen Geschichtsbuches. Wir sollten darin lesen, um die Zeichen unserer Zeit zu hören und zu begreifen. Seine Lieder sind in Griechenland in aller Munde. Jeder, der in diesen Jahren eines der großen Konzerte zu Theodorakis Ehren im alten Olympiastadion in Athen oder im Herodes-Atticus-Theater erlebt hat, kann sich hiervon überzeugen…

Den Werken von Theodorakis wohnt Erkenntnis inne, Erkenntnis der Geschichte und der Gegenwart. Hieraus resultiert die Furcht machtbesessener und totalitärer Regierungen vor seiner Musik, die bewirkt, dass seine Kompositionen und Konzerte immer wieder verboten wurden. Wo gibt es in Gegenwart und Geschichte einen Komponisten, der sich für sein Volk fast acht Jahrzehnte im politischen Kampf engagiert, für ein Volk, zu dem er eine schmerzliche Verbundenheit empfindet? 1936 entstandene Gedichte aus »Epitaphios« von Jannis Ritsos vertont Theodorakis 1958. »Damit tritt ein neuer Dialogpartner auf den Plan«, sagt Theodorakis. »Nicht mehr die wenigen ›Eingeweihten‹, sind es, mit denen sich der Dialog vollzieht. Der neue Partner ist jetzt das ganze Volk, an erster Stelle seine avantgardistischen sozialen und politischen Kräfte.«

Theodorakis macht von nun an immer wieder große Dichtung zu Liedern, gesungen auf Kundgebungen, in Gefängnissen, in Konzerten. Die Epitaphios-Lieder veranlassen den Komponisten zum intensiven Studium der Musiktradition seines Landes, vor allem der Volksmusik. Die Mutter in Epitaphios ist die Mutter Griechenlands. Sie singt von allen jungen Menschen, die durch Gewaltherrschaft ums Leben kamen. Ritsos schreibt in Epitaphios: »Ein jedes Wort ist ein Aufbruch zu einer Begegnung, viele Male gescheitert, und ein wahres Wort ist es dann, wenn es auf der Begegnung besteht.« Tauschen wir den Ausdruck Wort durch den Begriff Ton aus, eröffnet sich ein wesentlicher Zugang zu Theodorakis’ Musik: Seine Forderung nach dem Dialog und nach der Begegnung mit dem Publikum – das unterscheidet Theodorakis von den meisten seiner komponierenden Kolleginnen und Kollegen. Theodorakis fordert, Musik verständlich zu machen und zugleich das Bewusstsein der Hörenden zu wecken, dies nicht allein für die Traditionsstränge eines Werkes, sondern auch für neue Inhalte und neue Formen. Und: Theodorakis Musik ist eine Musik des Widerstands – eines Widerstands gegen die Verletzung der Würde des Menschen, gegen den Missbrauch der Macht, gegen die Einschränkung der Freiheit und gegen alle Einschränkungen künstlerischer Tätigkeiten.

Mikis Theodorakis’ Schaffen umfasst fünf Phasen vom anfänglichen Lied bis zu seiner Opern-Tetralogie »Medea«, »Elektra«, »Antigone« und »Lysistrata«. Während aller fünf Schaffensphasen prägen die geschichtlichen Ereignisse sein künstlerisches Handeln. Das Schöne und das Hässliche bleiben für ihn fundamentale Kategorien. Werden sie einzig innerhalb des Werkes als ästhetische Kategorie, das heißt, nur aus der Komposition heraus bestimmt, verlieren sie für Theodorakis den Bezug zur Wirklichkeit. Beide, das Schöne und das Hässliche, erklärt Theodorakis allein durch den Bezug zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Theodorakis’ Musik bedeutet und beinhaltet stets mehr als Musik. Sie ist ein Instrument der Erkenntnis von Wirklichkeit, ein Mittel zur Aneignung und Veränderung der Welt, mit dem Ziel, dieses Modell auf die Realität zu übertragen und zu verwirklichen…

»Seit meiner Jugend nahm ich die Existenz dieser sich neu zeichnenden Kreise des Bösen wahr. In meinem 15. Lebensjahr musste ich den Kreis des Zyklonen – des Zweiten Weltkrieges – miterleben und konnte so einige seiner Grundzüge beobachten und festhalten, die weit über das Gegenwartsgeschehen hinausgingen. Ich sah die sich ständig wiederholende Katastrophe von Theben«. Da mit Theben nicht nur eine Stadt, sondern ein ganzes Menschengeschlecht ausgelöscht wird, nennt Theodorakis die Geschehnisse in Theben die »Tragödie aller Tragödien (…), den Krieg als eine Folge höchster menschlicher Schwäche, (…) den Hunger nach absoluter Macht, weil der Schöpfer der Mythen auf diese Weise zeigen will, dass das den Menschen vernichtende Urteil das Kind des Menschen selber ist.« Eines der zentralen Themen in Theodorakis Werk und Leben bildet das individuelle Gewissen gegenüber staatlichen Gesetzen, bildet das Ethos als moralisches Gesetz gegenüber den von Menschen in unterschiedlichen Zeiten gemachten Gesetzen. Am 95. Geburtstag ehren wir den großen Vokalkomponisten und Sinfoniker Mikis Theodorakis. Seine Werke werden auf den Kontinenten, in Konzertsälen und Theatern aufgeführt. Sein Leben zeigt uns, nicht im Heraushalten aus dem Streit der Welt und in künstlerischer Tätigkeit in der Abgeschiedenheit des Elfenbeinturms liegt die Hoffnung der Welt, sondern im Aufbegehren der Kunstschaffenden gegen begangenes Unrecht. Anlässlich einer CD-Produktion schrieb Theodorakis 1991: »Ich habe das Glück gehabt, mit bedeutenden Dichtern zusammenzuarbeiten. Als die Texte dieser Dichter übersetzt wurden, wunderten sich viele, dass bei den Griechen diese ›unpolitischen‹ Lieder eine ›revolutionäre Stimmung‹ erzeugten. Die Erklärung hierfür gilt noch heute. Es gibt immer Diktaturen. (…) Die alltägliche Diktatur existiert in unserer Gesellschaft, in uns, um uns herum, in unseren Familien. Ich glaube, dass es keinen effektiveren Antikörper gegen die Diktatur gibt als die Musik.«

Mikis Theodorakis gratuliert Dr. Gerhard Folkerts nach einem Konzert 2005 in Athen, Photo: Petra Folkerts

Die Faszination und Liebe zu seiner Musik, mit der Theodorakis uns beschenkte, erfüllt uns mit ungekannten Emotionen und neuen Klangwelten. Das Erlebnis seines Werkes gehört mit zum kostbarsten Besitz der Menschheit. Würde es einen Nobelpreis für Musik geben, Mikis Theodorakis müsste ihn erhalten.“

Dr. Gerhard Folkerts, Juli 2020 (aus „Junge Welt“,Berlin)


Anmerkungen:

1. Die Theodorakis-Zitate im obigen Artikel sind folgenden Quellen entnommen: Mikis Theodorakis: Meine Stellung in der Musikszene, Leipzig 1986, Mikis Theodorakis: Die Wege des Erzengels, Frankfurt am Main 1995 und Jaques Coubart: La Grèce entre le reve et le cauchemar, Paris 1969.

2. Das griechische öffentlich-rechtliche Fernsehen ERT-TV übertrug live das Konzert zum 85. Geburtstag von Mikis Theodorakis 2010 im Lykabettus-Theater von Athen, das Gerhard Folkerts mit einem Klaviersolo eröffnete. Hier der Link zur YouTube-Konzertübertragung.